Zero Bullshit Knowledge Management #0BSKM

Ein wissenschaftsnaher Kommentar zur Frage: Quo Vadis Knowledge Management?
Dr. Karsten Ehms

Totgeschriebene leben länger

Wissensmanagement kann, wie die GfWM, auf über 20 Jahre als eigene Disziplin zurückblicken. Einen Großteil dieser Zeit wurde es totgesagt, totgeschrieben als gescheitert bezeichnet. Ich erinnere mich an ein Zitat von Dave Snowden aus dem Jahr 2005: “KM is dead, now they are selling it to the government.” Nun ist es nichts besonderes, wenn Managementmoden ein Verfallsdatum haben, das fordern schon die “Gesetze” der angeschlossenen Märkte. Bemerkenswert an unserem Thema ist, dass es nach wie vor mindestens so viel Aufmerksamkeit erregen kann, um jährlich aufs Neue rhetorisch ins Jenseits befördert zu werden.

Kann man als Beirat der Institution GfWM das Wort “Bullshit” in einem Rück-Aus-Blick verwenden? Ich habe gezögert, nach der Entscheidung für ein abgeschwächtes “cut the jargon, learn the concepts” bei meiner Kandidatur. Der überraschende Tod von David Graeber, u.a. der Autor von “Bullshit Jobs: A Theory” vor einigen Wochen, lässt Zero Bullshit Knowledge Management (#0BSKM) als Gebot der Stunde erscheinen. Graeber hat sich leidenschaftlich und scharfsinnig mit der bürokratischen Starrheit von Institutionen gegenüber bahnbrechenden Innovationen beschäftigt und beschreibt in diesem Zusammenhang, wie langfristiger Wandel ursprünglich Funktionales in Bullshit transformiert. In diesem Sinne möchte ich das Kraftwort verstanden wissen und kürze es für die Anwendungen auf unseren Fachgegenstand jubiläumstauglich ab.

0BSKM kann als mein persönlicher, extensiver Versuch beschrieben werden:

  1. Ordnung in einen Rückblick zu bringen,
  2. die Frage zu beantworten, was das Thema aus Sicht von Praktikern und Einsteigern “so schwierig” macht,
  3. seriöse Vereinfachung zu betreiben und
  4. auf veränderte Rahmenbedingungen einzugehen, um zu skizzieren, was an Wissensmanagement erneuert werden muss.

Daraus ist das in Abbildung 1 dargestellte Denkgerüst mit aktuell 3x3 Ideen entstanden, die im Folgenden beschrieben werden. Ich lasse den “claim” 0BSKM und die Darstellung im Englischen, und führe auf Deutsch aus.



Abbildung 1: Kategorien des 0BSKM

Was macht Wissensmanagement dauerhaft so schwierig? – orange

Bei vielen kurzfristig orientierten Pragmatikern gilt Wissensmanagement als gescheitert (vgl. Einleitung), weil es in der Regel (und in den Händen von Anfängern) keine kurzfristigen Ergebnisse geliefert hat, oder die “quick-wins” nicht stabilisiert und weiterentwickelt werden konnten. Ich würde, nahezu unzulässig verdichtend, drei Bündel and Gründen anführen, weshalb WM-Initiativen immer wieder scheitern.

Immaterialität

Wissen, egal wie genau definiert, hat immer auch nicht-materiellen Charakter und verhält sich gegenüber Eingriffen (allgemein: Steuerungsbemühungen) grundlegend anders als materielle Güter. Die Erfolgsgeschichte von Management in der ausgehenden Industriegesellschaft gründet aber gerade in der Optimierung physischer und nicht geistiger Arbeit. Diesem eigentlich einfach zu begreifenden Umstand ist meines Erachtens der häufige Stoßseufzer geschuldete: “Sie verstehen es einfach nicht”.

Langfristigkeit der Transformation

Da der eben beschriebene Wandel kein “pragmatischer switch” oder “shift” ist, haben es Wissensprofis immer mit Langfristigkeit zu tun, die sich einer möglichst kurzfristigen, präzisen Be- und Zurechnung entzieht. Besonders dann, wenn die “Berechnung” im Sinne eines ROI’s noch vor der Umsetzung gefordert wird. Aber auch durch die “Verschleifung” der Leistungserstellung über die Zusammenarbeit verschiedener Akteure, wird die Messung zur scheinpräzisen Steuerungsillusion.

Interdisziplinarität

Die Disziplin Wissensmanagement sitzt zwischen verschiedenen Stühlen. Einerseits handelt es sich um einen Theorie-Praxis-Hybrid, andererseits stützt sie sich idealerweise auf stark unterschiedlichen Basisdisziplinen ab. Zu nennen wären Psychologie, Informatik, Soziologie, Organisations- und Strategielehre (BWL), Pädagogik und Didaktik. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass diese Basisdisziplinen unterschiedliche Wahrheitsvorstellungen implizieren, also unterschiedliche Ansprüche daran stellen, welche Theorien und Konzepte als gültig erachtet werden. Dies führt schnell zu intensiven Diskussionen zwischen Praktikern unterschiedlicher Herkunft. Ein unvermeidbarer und eigentlich positiver Umstand. Zu vermeiden wäre die Zurückhaltung des Deutschen Hochschulsystems bei der Gestaltung grundlegend interdisziplinärer Studiengänge. Hier sind wir strukturell gegenüber angelsächsischen Ansätzen “zu diszipliniert”.

Was sollten wir gelernt haben, akzeptieren und ‘einfach’ sein lassen? – rot

Die folgenden Aspekte sind mir in meiner Tätigkeit wiederholt begegnet und ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie unnötig Komplexität erzeugen. Im Gegensatz zu den zuletzt beschriebene Herausforderungen sind sie in der Regel relativ leicht “auszuräumen”, sofern man ihre Hintergründe akzeptiert.

Bild der Wissenschaft

Über ca. 15 Jahre hinweg war und bin ich an verschiedenen Institutionen in der Lehre tätig gewesen und war in dieser Rolle gefordert, das gesicherte Wissen über Wissen(s-Management) zu vermitteln. Wiederholt war ich mit Quellen konfrontiert, die die im ersten Abschnitt beschriebenen Umstände und Besonderheiten unseres Gegestands teils bewusst ignorierten, aus Gründen der “Pragmatik” übergingen oder schlichtweg seit Jahrzehnten vorhandene Erkenntnisse und Korrekturen nicht berücksichtigten.
Zur Veranschaulichung solcher “Erbsüden” (vgl. Schneider, 2001) sei das SECI-Modell (Nonaka 1994) genannt, welches von den Autoren selbst bereits nach vier Jahren korrigiert wurde, bis heute aber, ohne den dringend notwendigen Kommentar, als viable Grundlage für Qualifizierungsarbeiten akzeptiert oder gar empfohlen wird (Ehms 2010). Ohne eine bessere wissenschaftliche Praxis werden vermutlich auch in 10 Jahren noch Dissertationen auf dieser Grundlage betreut und verfasst. Die so genannte Praxis orientiert sich zumindest langfristig an den Modellen aus der Wissenschaft, so dass hier echtes Lösungspotenzial des eigentlich vorhandenen wissenschaftlichen Wissens über Jahre verschenkt wurde. Hier hilft es, die Hintergründe zu kennen, einschließlich der Tatsache, dass Wissenschaft oft eigenen institutionellen Logiken folgt. Das ist kein Aufruf, den Wert wissenschaftlichen Wissens per se zu negieren.

Die Kodifizierungsfalle und die Rolle medialer Werkzeuge

Wir sollten in über 20 Jahren Wissensmanagement gelernt haben, dass das Verhältnis des Menschen zu Werkzeugen ein wesentlich komplexeres ist, als es das Konferenz-Mantra vom “Menschen im Mittelpunkt” gegenüber den “es sind ja nur Technik-Tools” vermittelt. Die Beliebtheit (pseudo-)materieller Lösungsbausteine scheint ungebrochen. Was vor Jahrzehnten die Wissensdatenbank war, findet im aktuellen Hype um vermeintlich intelligente Chatbots seine Wiedergänger. Dass es eine Schieflage der Lösungsvorschläge in Richtung kodifiziertes Wissen gibt, ist in Fachkreisen als “Kodifizierungsfalle” bekannt. Schon weniger verbreitet ist die Erkenntnis, dass es bei den meisten Herausforderungen des Wissensmanagements stets um eine Balance zwischen “dokumentierter Information” und zeitsynchronem Dialog von Personen geht. Die oben geschilderte Fokussierung auf den Menschen und die damit oft verbundene Abwertung der Technik verkennt maßgeblich die alltägliche Transformationswirkung von Digitalwerkzeugen. Sie waren immer eine notwendige und nie eine hinreichende Bedingung für gelungenes Wissensmanagement.

Interessensgeleitete Rezeptversprechen

Letztlich nicht trennscharf abzugrenzen ist der Hinweis, dass Vereinfachung für das Erlernen und Weitergeben von “Wissen über Wissensangelegenheiten” (um einmal mehr das -Management-Anhängsel zu vermeiden) erreicht werden kann, indem über die interessensgeleitete Färbung von “Lösungskonzepten” aufklärt. Der kritische Umgang mit Heilsversprechen und deren Hintergründe (cui bono?) muss nicht nur, wie hier, generell verkündet sondern geübt werden. Eine einfache Variante von Rezepten besteht im sprachlichen Umetikettieren längst bekannter und gut erforschter Zusammenhänge, um (scheinbar!) neue Produkte zu vertreiben. Leider mit erheblichen Nebenwirkungen für Ausbildung und Wissenskommunikation.

Was ist heute anders als vor 20 Jahren? – grün

Nun wäre es naiv zu behaupten, die Schwierigkeiten, Wissenstransfer zu gestalten, bestünden langfristig lediglich aus den Basisherausforderungen (Abschnitt 1) und ineffizienten Lernverzögerungen (Abschnitt 2). Selbstverständlich haben vor allem technische Entwicklungen der letzten 20 Jahre Veränderungen ausgelöst, die auch unseren Gegenstandbereich betreffen. In 0BSKM möchte ich aktuell drei Themen herausgreifen.

Persönliche digitale Werkzeuge

Der erste Faktor, der auch den Umgang mit Wissen beeinflusst, besteht meines Erachtens in der allgegenwärtigen Verfügbarkeit und Anwendung digitaler Geräte. Zunächst Laptops statt Desktops, ab ca. 2008 in der massiven Verbreitung von Smartphones als universelle Digitalinfrastruktur. Diese Tools sind immer auch(!) Wissens- und Lernwerkzeuge.

Digitale Wissensspuren als Fragmente

Wurde in der Frühphase des Wissensmanagements (um das Jahr 2000) vielfach der Aufwand der Kodifizierung betont, also die Mühen, die mit dem (dann leicht) kopierbaren Verschriftlichen oder “Verbildlichen” von Informationen und Zusammenhängen verbunden waren, so entsteht 20 Jahre später beinahe jede Information digital. Mühsamer als die “bloße Kodifizierung” erscheint die nun notwendige scharfe Selektion (Filterung) im Information Overload und das Zusammenfügen der granularen Informationsfragmente zu größeren Sinneinheiten.

Künstliche Intelligenzen

Keine Reflektion und kein Ausblick kann aktuell ohne den Hinweis auf die Entwicklungen auskommen, die unter dem Schlagwort der künstlichen Intelligenz zusammengefasst werden. Zweifellos schaffen Techniken der künstlichen Intelligenz, vor allem im Bereich des Machine Learnings / Konnektionismus, weitere Möglichkeiten für Filterung und Verdichtung der stetig anwachsenden Informationsmengen. Der Mangel an Information hat sich längst in einen Überfluss verkehrt (vgl. Nefiodow 1995) und so scheint der Einsatz flexibel automatisierter Symbol- und Datenverarbeitung alternativlos. Doch schon die Auswahl des geeigneten Ansatzes und der angeschlossenen Methoden erzeugen neue Herausforderungen, die als Orientierungswissen für Wissensexperten wichtig sind.

Quo Vadis

Wo geht Wissensmanagement nun hin? Der vorliegende Aufsatz besteht eher aus einem programmatischen Rückblick und nicht aus dem Versuch, realistische Zukunftsszenarien zu skizzieren. Durch die Verdichtung zu langfristigen Aspekten lassen sich dennoch Thesen ableiten.
Erstens: Wissensmanagement wird umso mehr auf der Stelle treten, umso weniger es gelingt, sich von dem im zweiten Abschnitt beschriebenen BS zu lösen. Zweitens: Ein ständiges Wiederholen fundamentaler Missverständnisse bedeutet keinen Fortschritt, auch und gerade nicht durch inflationäre Sprachschöpfungen. Drittens: Individuelle und professionelle Kompetenz zum “Gegenstand” Wissen mit seinen immateriellen Eigenschaften wird wichtiger werden. Industriell geprägte Managementversuche werden an Bedeutung verlieren. Wissen hat eine Zukunft, klassisches Management nicht.

Quellen


Karsten Ehms (Dr. phil. Dipl.-Psych.) versteht sich als interdisziplinärer Problemlöser. Er entwickelt seit zwei Jahrzehnten sowohl technische als auch soziale Systeme. Die Bandbreite der bisher ca. 80 Projekte reicht von der wissenszentrierten Strategieberatung bis zur Entwicklung digitaler Kollaborationsplattformen auf Konzernebene. Neben seiner Arbeit im Team Datenanalyse und künstliche Intelligenz in der Technologieabteilung der Siemens AG lehrt und forscht er zum Verhältnis von Menschen, Teams und Organisationen zu ihren digitalen Werkzeugen.

Kommentare gerne an: 0BSKM@karsten-ehms.net oder @karstenpe bzw. #0bskm